Die Wirtschaft befindet sich ständig im Wandel. Industrialisierung und Digitalisierung prägen ihr Bild wie keine andere Strömung – bis auf den Klimawandel. Denn der Stil der Wirtschaft wird nicht nur ökologischer, sondern auch das Klima innerhalb von Unternehmen, was auch der Gesellschaft zugute kommt. Kein Fachbegriff beschreibt diese Veränderung besser als „ESG“ – Environmental, Social, Governance (zu Deutsch: „Umwelt, Soziales und Unternehmensführung“).
Maximilian Janka (frisch): Julia, was ist ESG?
Julia Janka: ESG steht für Environmental, Social und Governance. Es befasst sich damit wie Unternehmen ihrer Verantwortung gegenüber der Umwelt, der Gesellschaft, aber auch innerbetrieblich – also ihren Mitarbeiter*innen gegenüber – nachkommen können. Wenn wir uns „Environmental'“ – also die Umweltsäule – anschauen, geht es sehr stark um einen geringen ökologischen Fußabdruck der Unternehmen, die Reduktion der Umweltverschmutzung und Möglichkeiten, einen positiven Beitrag zu leisten.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Julia Janka: Ein Beispiel aus der Modebranche: Man nimmt alte Fischernetze und Plastikmüll aus dem Meer und macht daraus neue Materialien. Im „Social Part“ – im Sozialen – geht es um die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Dass man – in meinen Augen – über den Tellerrand hinausblickt. Dass ich mir nicht nur das Kerngeschäft des Unternehmens anschaue, sondern auch – gerade bei großen Unternehmen: ‚Wie kann ich mit meinen Leistungen und als Unternehmen einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft nehmen?‘. Beispielsweise können Telekommunikationsunternehmen kostenlose Digitalisierungskurse für Kinder und Jugendliche anbieten, damit sie lernen, wie man mit einem eigenen Computer umgeht oder welche Gefahren die sozialen Medien und das Internet bergen. „Governance“ – die dritte Säule – sind für mich zwei Aspekte: Erstens, die Unternehmensführung und der Umgang mit den eigenen Mitarbeiter*innen. Zweitens, die Governance wie man sie versteht – Transparenz, Rechtsmäßigkeit, Achtung der Menschenrechte.
Du hast bei ‚Social‘ gesagt, man müsse für die Gesellschaft über den Tellerrand hinausblicken. Ich nehme an, das hängt auch mit Diversität zusammen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Quoten und hohen ESG-Bewertungen?
Julia Janka: Sehr gute Frage! Zunächst einmal gibt es sehr unterschiedliche Arten von ESG-Ratings und jedes Rating setzt unterschiedliche Schwerpunkte. Diversität ist auf jeden Fall ein Faktor, der hier berücksichtigt wird. In fast allen Ratings wird darauf geschaut, wie die Frauenquote im Vorstand ist oder auch im Unternehmen selber. ‚Gibt es Programme, die das Unternehmen führt, um explizit Diversität zu fördern und damit für ihre Mitarbeiter*innen am Arbeitsmarkt besonders attraktiv erscheinen zu lassen?‘
Bei den meisten Ratings gibt es zwei Arten: aktiv und passiv. Aktiv heißt, dass ich aktiv einen Fragebogen ausfülle. Hier werden Fragen beantwortet und Daten angegeben. Passiv heißt, dass sich Rating-Agenturen Jahresberichte, Websites und Medienauftritte von Unternehmen anschauen. Sie nehmen sich Information, die öffentlich zugänglich sind.
Gibt es in ESG-Ratings verpflichtendere Frauenquoten im Vorstand oder Abteilungen?
Julia Janka: Ja, es wirkt sich positiv auf das ESG-Rating aus, wenn man eine hohe Frauenquote hat, beziehungsweise daran arbeitet, diese zu steigern. Was bei der Diversität interessant zu beobachten ist: In Europa liegt der Schwerpunkt auf Geschlechtergleichheit, während es in Nordamerika schon viel mehr um Diversität im Sinne von ‚Ethnicity‘ geht. ‚Wieviele Menschen mit lateinamerikanischem oder afroamerikanischem Hintergrund hast du in deinem Unternehmen?‘ Es gibt auch andere Diversitätspunkte, die du nicht so leicht messen kannst. Es geht nicht, dass du jede*n Mitarbeiter*in fragst, ob er*sie sich als Mann oder Frau identifiziert oder welche sexuelle Orientierung jemand hat. Das greift viel zu sehr in die Privatsphäre ein. Das sind dennoch Aspekte, die – wie oben genannt – gemessen werden, indem man sich anschaut, ob es Programme oder Teams im Unternehmen gibt, die sich intensiv mit dem Thema Diversität auseinandersetzen.
Ich glaube es ist schon sehr gut dargestellt worden wie diese Scores entstehen. Außer du möchtest noch etwas ergänzen?
Julia Janka: Erwähnenswert sind noch zwei der wichtigsten Ratings: ‚CDP – Carbon Disclosure Project‘, das befasst sich mit Umweltthemen, vor allem mit dem Klimawandel. ‚Sustainalytics‘, das befasst sich mit Risiken. Die sagen: ‚Wenn du dich als Unternehmen nicht um ESG kümmerst, dann gefährdest du damit dein Unternehmen!‘. Darum schauen sie sich dein Risikomanagement an. In dem Fall gilt: Je niedriger dein Wert, desto besser! Das bedeutet, du hast ein niedrigeres Risiko, weil du dich um dieses Thema kümmerst und es gut managest. Wobei man sagen muss, dass es immer einen Prozentsatz von ‚Unmanaged Risk‘ gibt, den man nicht beeinflussen kann. Du kannst versuchen, dich dagegen zu schützen, aber du hast keine hundertprozentige Garantie – sei das eine Umweltkatastrophe oder politische Probleme in Ländern, wo du tätig bist.
In welchen Branchen sind die jeweiligen ESG-Säulen wichtiger? Gibt es da Unterschiede zwischen Kommunikation, Finanzwesen oder Lebensmittel? Gewiegt da irgendwo das ‚E‘ größer als das ‚G‘ und anders wo ist das ‚S‘ am wichtigsten?
Julia Janka: Ich möchte da zwei Dinge ansprechen: Erstens, sieht man momentan, dass ein großer Schwerpunkt auf dem ‚E‘ liegt. Ich glaube, dieses Umweltbewusstsein kommt in der Gesellschaft und der Politik immer mehr an – und auch am Finanzmarkt. Ich glaube, dass sich alle Unternehmen gerade sehr stark mit Nachhaltigkeit im Umweltsinne befassen. Aber natürlich schauen sich die ESG-Ratings an, in welcher Branche du tätig bist. Wenn ich mir wieder das Sustainalytics-Rating anschaue, ist Datensicherheit in einem Telekommunikationsunternehmen um vieles wichtiger als bei einem Bauunternehmen. Dort ist es wichtig, dass sie umweltschonende Materialien verwenden, ihre Mitarbeiter*innen gut behandeln. Also ja, es ist auf jeden Fall so, dass ‚E‘, ‚S‘ und ‚G‘ und nochmals innerhalb dieser drei Säulen Themen unterschiedlich von Branche zu Branche gewichtet werden.
Grafik: frisch; Quelle: VÖIG, Stand: Ende 1. Quartal 2021
Du bist schon auf deine eigene Arbeit eingegangen, in einem ESG-Team in einem Unternehmen. Davor noch, ist es mittlerweile Usus, dass börsennotierte Unternehmen ein ESG-Team haben?
Julia Janka: Ja, ich würde schon meinen, dass ESG mittlerweile Usus in börsennotierten Unternehmen ist oder gerade wird. Der Grund ist einfach, weil es vom Finanzmarkt gefordert wird. Es ist auch sehr spannend zu sehen, dass Anfang 2020 – zu Beginn der Corona-Krise – oftmals Investor*innen, die sich mit ESG befasst haben, viel besser abgeschnitten haben als jene Investor*innen, die sich nur die finanzielle Leistung eines Unternehmens angeschaut haben.
Gib uns einen Einblick: Wie schaut es in einem ESG-Team über mehrere Wochen in der Praxis aus?
Julia Janka: Das ist natürlich von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich, weil jedes Unternehmen bei seiner Reise zur Nachhaltigkeit – im ökologischen und sozialen Sinne – an einem anderen Anfangspunkt steht. Derzeit ist es bei vielen Unternehmen noch das Thema ‚Bewusstsein schaffen‘. ESG ist wirklich ein Thema, das nur umgesetzt werden kann, wenn allen Abteilungen eines Unternehmens der Begriff ‚ESG‘ etwas sagt und ESG mitgedacht wird. Sonst bist du auf verlorenem Posten.
Was wir auch sehr intensiv machen, ist mit den anderen Abteilungen in einen Dialog kommen. Dass wir sie informieren was ESG ist, wie wir einen Beitrag leisten können und welche ESG-Themen in ihre Abteilung fallen.
Zum Beispiel?
Julia Janka: Klassisches Beispiel: ‚Supply Chain Management‘. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Nämlich, dass man sich anschaut, ob es Richtlinien an die Lieferant*innen gibt. Das wird gemacht, damit sie Umwelt- und Sozialstandards einhalten.
Dann hängt es natürlich noch davon ab, wie dein Unternehmen strukturiert ist. Ob du ein Unternehmen mit 500 Mitarbeiter*innen hast, das in einem Land tätig ist oder eine Group mit Tochterunternehmen in mehreren Ländern. Es ist sehr viel strategische Arbeit. Dass man sich überlegt, ob wir eine einheitliche Strategie für alle Tochterunternehmen entwickeln können?
Neben der strategischen Arbeit ist das ‚Reporting‘ wichtig.
Was versteht man darunter?
Julia Janka: Die Umweltkennzahlen eines Unternehmens – CO2-Emissionen, Müll, Wasser- und Stromverbrauch, Diesel und Benzin für den Fuhrpark. Da haben auch wir eine ‚Guideline‘ geschrieben und ein ‚Dashbord‘ erstellt, wie diese Kennzahlen erhoben werden sollen.
Wenn man es in drei Punkten zusammenfassen möchte, ist es Bewusstsein für das Thema schaffen, Strategien erarbeiten und Reporting. Am Ende des Tages musst du alles möglichst gut ‚reporten‘, damit alles Hand und Fuß hat. Am besten lässt du deine Kennzahlen auch noch extern von einem*einer Wirtschaftsprüfer*in überprüfen, damit es wirklich validiert ist.
Grafik: frisch; Quelle: ORF und ARD
Zum Schluss etwas Politisches: Kommen die Vorgaben von oben? Sagt ein Unternehmen ‚Wir wollen bis 2040 klimaneutral sein oder von den UN Sustainable Development Goals die Ziele 1, 3 und 7 (Anm.: ‚Keine Armut‘, ‚Gesundheit und Wohlstand‘ und ‚Leistbarer und sauberer Strom‘) erreichen‘? Oder kommt ihr als ESG-Team und sagt: ‚Das konnten wir analysieren, hier sehen wir Potenzial, das ist umsetzbar‘?
Julia Janka: Ich bin bisher noch nicht bei der Geburtsstunde der ESG-Ziele eines Unternehmens dabei gewesen. Dahingehend kann ich dir nicht sagen, wie das abläuft, aber tendenziell ist es zweiteres. Es kommt von unten. Wir arbeiten sehr eng mit dem Vorstand zusammen. Wie du richtig gesagt hast: Man analysiert diese ESG-Ratings, man analysiert seine Peers (Anm.: aufgrund wirtschaftlicher Merkmale vergleichbares Unternehmen) und seine Konkurrenz. Anhand dieser Analysen findet man Erkenntnisse, wie man sich verbessern kann, arbeitet diese aus und bestimmt welche wichtig sind. Damit geht man zum Vorstand, diskutiert das und der entscheidet was ausgearbeitet werden soll.
Das zweite sind gesetzliche Vorschriften, die immer konkreter und strikter werden. Beispielsweise ist EU-Taxonomy – Teil des EU-Green-Deal – ein noch strikteres Reporting, noch genauere Dokumentation – und da muss man sich als Unternehmen damit befassen wie man diesen neuen Reporting-Richtlinien entsprechen kann. Da ist man von außen gezwungen sich damit auseinanderzusetzen.
Julia Janka ist Master of Science (Climate Change, Management and Finance) und Analystin sowie Beraterin im ESG-Bereich.
Dieses Interview ersetzt keine professionelle Beratung und ist nicht als Investmentempfehlung zu betrachten.