Funktionaler Analphabetismus – Die traurige Wahrheit

„Entschuldigen Sie, könnten Sie mir sagen in welcher Straße wir uns gerade befinden?“, fragt mich die Dame in akzentfreiem Deutsch. Ich wende den Blick zu dem Straßenschild, vor welchem wir uns gerade befinden und deute darauf: „Wir sind auf der Mariahilfer Straße.“ „Ah ich danke Ihnen“, sagt meine Gesprächspartnerin und lässt mich in Gedanken zurück. 
Wieso fragt mich eine Dame im mittleren Alter nach unserem Standort, obwohl wir doch offensichtlich vor einem Straßenschild standen? Hat sie vielleicht eine Sehschwäche und ihre Brille vergessen? Kann sie nicht lesen? Gibt es Personen in Österreich, die des Lesens nicht mächtig sind?

„Analphabetismus“: Ein Begriff der im allgemeinen Sprachgebrauch mit einer Person in Verbindung gesetzt wird, die weder des Lesens, noch des Schreibens mächtig ist. Im literarischen Diskurs findet man verschiedene Definitionen zu diesem Wort. 
Die interessanteste ist die des funktionalen Analphabetismus, denn diese setzt den von einer konkreten Gesellschaft erwarteten Mindeststandard der Schriftsprachbeherrschung an eine Person und ebenderen Kompetenzen in einen direkten Vergleich. Somit stellt ein funktionaler Analphabet eine Person dar, die die gesellschaftlichen Mindestanforderungen der Schriftsprache unterschreitet. 

Jedoch stellt sich die Frage, ob ebendiese Form des Analphabetismus in einem Industrieland wie Österreich existiert und wie es dazu kommen kann, dass Personen die in Österreich aufwachsen, trotz der Schulpflicht nicht die nötigen Grundkenntnisse in Sachen Lesen und Schreiben besitzen können. 
Eine PIAAC-Erhebung, die 2012 von der OECD in Österreich durchgeführt wurde, zeichnet ein schreckliches Bild: Beinahe eine Million Menschen in Österreich verfügen über eine erschreckend niedrige Lesekompetenz und sehen sich dadurch im alltäglichen Leben mit Problemen, wie dem Lesen eines Straßenschildes, konfrontiert. 

Über diese Frage scheinen sich die Geister zu scheiden und die Wissenschaft zu teilen. Oft wird gemeint, dass die Anfänge schon bei der sozialen Herkunft und der sozialstrukturellen Positionierung der Herkunftsfamilie liegen und der altbekannte Glaube, dass Bildung vererbt sei, zutrifft. Denn ein Großteil der betroffenen Personen lässt sich in das untere Drittel des soziokulturellen Milieus einordnen. Diese Tatsache scheint im weiteren Sinn, mit den Augen eines Laien betrachtet, recht plausibel, da der generelle Einfluss den Eltern und das von ihnen geschaffene Umfeld auf Kinder haben, vor allem in frühen Jahren ein großer ist. Wenn Eltern ihren Kindern vorleben, dass ein Leben ohne Schulbildung möglich und vielleicht sogar erstrebenswert ist, wieso sollten ebendiese Kinder größeren Wert auf das Erlernen von lesen, schreiben und rechnen legen?
Dennoch muss die familiäre Situation nicht ausschlaggebend für die Schriftsprachmängel einer Person sein. Auch das Schulsystem und eine gewisse Bildungsbenachteiligung in diesem kann eine enorme Rolle in der Entwicklung von Analphabetismus spielen, da es so entscheidend im Schriftspracherwerb ist. 

In der gesellschaftlichen Vorstellung soll die Schule Kinder und Jugendliche auf die Arbeitswelt und das weitere Leben vorbereiten. Es entsteht die reine Bewertung einer Person nach Zeugnissen und Zertifikaten und im übertragenen Sinn entsteht eine gewisse soziale Segmentierung. Die Schule übt mit Selektionsentscheidungen einen gravierenden Einfluss auf die Entwicklung und das Leben des Kindes aus, sämtliche Entscheidungen werden mit einer „Förderungsmaßnahme“ begründet. Tritt nun ein bildungsfernes Kind in die Schule ein, kann ein Bildungsbenachteiligunsprozess wahrgenommen werden. Das Bildungssystem besteht aus standardisierten Bildungsinhalten und Vermittlungsmethoden, die von der bildungsnahen Gesellschaft kreiert worden sind und andere Bildungsformen weder wertschätzen noch dulden. Wie fühlt sich ebendieses Kind, dass in die Schule geht und kaum eine Chance bekommt sich dort wiederzufinden, einzuleben und mit den vielen Eindrücken klarzukommen? Ausgeschlossen, alleine und nicht verstanden. Wieso sollte dieses Kind weiter in die Schule gehen wollen? Und wenn dieses Kind bildungsferne Eltern, die sich nicht um die Schulbildung ihres Kindes kümmern hat, wie soll es je einen Anschluss in einer Gesellschaft, die auf Bildung basiert finden? So viele Fragen, so wenige zufriedenstellende Antworten.

Immerhin gibt es heutzutage schon das Andenken, einige Rahmenbedingungen zur Erleichterung für die gesellschaftlichen Teilhabe von Analphabeten zu schaffen. Die Technisierung gehört im weiteren Sinne nicht zu diesen Begünstigungen, denn viele gesellschaftlich relevante Behörden und Institutionen werden technisiert und es wird seltener auf Kommunikation wie das Telefonieren zurückgegriffen. Um das in einen aktuellen Kontext zu bringen: Ein funktionaler Analphabet möchte gerne online die Impfvoranmendlung durchführen, dies ist ihm ohne eine außenstehende Assistenz nicht möglich. Etwas, woran gearbeitet werden sollte. 

Glücklicherweise bieten immer mehr behördliche Webseiten audiovisuelle Angebote, um die von Menschen gemachte Barriere für andere Menschen zu senken, an. Schließlich handelt es sich nicht um einen kleinen Teil funktionaler Analphabeten in Österreich. Beinahe eine Millionen Menschen – 10 Prozent der Bevölkerung –  sind nicht wenig. Und leider bezweifle ich, dass die Anzahl der funktionalen Analphabeten in Österreich nach Ende der Pandemie gesunken sein wird.

Autor*in:

One Reply to “Funktionaler Analphabetismus – Die traurige Wahrheit”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zwei × zwei =