In seinem neusten Buch „Letzter Weckruf für Europa“ schreibt der Buchautor Helmut Brandstätter in einem flammenden Appell für ein gemeinsames Europa nicht nur über den Umgang der Europäischen Union mit der Coronakrise, wir lernen bei der Lektüre des im September 2020 erschienen Werks auch viel über die Geschichte unseres Kontinenten.
Obwohl das Buch des Neos-Abgeordneten Brandstätter vor einem Jahr erschienen ist, erweist es sich als brandaktuell: Die unsichere weltpolitische und weltwirtschaftliche Lage wird in dem 288 Seiten starken Werk ebenso angesprochen wie die bewegte Geschichte Europas. An der Krisenpolitik von Ex-Kanzler Kurz lässt Brandstätter kein gutes Haar – Europa wäre ihm nämlich kein Anliegen, vielmehr ginge es ihm um den nächsten Wahlerfolg. Ein Guide durch das vielseitige Europa-Buch.
Sebastian Kurz als Populist?
Nicht nur innenpolitisch betrachtet Helmut Brandstätter den früheren Kanzler und nunmehrigen ÖVP-Klubobmann kritisch, auch mit seinem Verständnis für die EU kann er wenig anfangen. Zusammengefasst meint Brandstätter, Kurz würde – wie auch in der Innenpolitik – nur auf seine Umfragen und seinen Wahlerfolg schauen. Als „Populist“ bezeichnet der frühere Kurier-Herausgeber Kurz zwar nicht direkt. Jedoch umschreibt er den Begriff – gemünzt auf den Ex-Kanzler – ganz gut auf Seite 25 am Beginn des Buches: „In Österreich ist mit Sebastian Kurz und seinem ihm ergebenen Umfeld, bestehend überwiegend aus jungen Frauen und Männern, eine ideologie- und ideenbefreite Generation angetreten, für die ein politisches Projekt lediglich die Funktion hat, eine Botschaft zu produzieren – und diese hat nur einen Zweck: Sie soll den Anführer in das bestmögliche Licht zu rücken. So lud der junge Kurz zum „24-Stunden-Verkehr“ mit der U-Bahn ein, weil das lässig klingt. Vor dem EU-Gipfel im Juli warnte er vor einer EU als „Schuldenunion“, um bestehende Ressentiments gegen Europa zu mobilisieren. Die ÖVP setzt eben auf die versprengten FPÖ-Wähler.“ Ihm gewidmet ist auch das Zitat dieser Rezension, das sich auch gleich am Beginn vom Buch findet.
Balkan, Beitrittskandidaten und Klimawandel
Doch um Innenpolitik – zum Beispiel auch um den Ibiza-Untersuchungsausschuss – geht es eigentlich nur ganz zu Beginn. Brandstätter schreibt dann viel über die Coronakrise und wie die EU mit ihr umgegangen ist. So ist natürlich der Europäische Aufbauplan (in den Medien wurde oft vom englischen Namen, „Recovery Plan“, gesprochen) öfter Thema im Buch. Dafür findet Brandstätter durchaus sehr lobende Worte, auch wenn ihm die Verhandlungen darüber beziehungsweise das nationalistische Denken verschiedener Staaten während der Verhandlungen darüber und über das EU-Budget sauer aufstoßen. Auch Österreichs Repräsentanten kommen hier nicht gut weg – es wird auch das bekannte Zitat von Emmanuel Macron genannt, das der französische Präsident im Rahmen der Juli-Verhandlungen zum renommierten Magazin „Politico“ gesagt hat. „Seht ihr? Es ist ihm egal. Er hört den anderen nicht zu, hat eine schlechte Haltung. Er kümmert sich um seine Presse und basta“ – auch so ein Beispiel über das Verhalten von Sebastian Kurz.
Dann geht’s aber auch um Details des Planes – Angela Merkel wird immer wieder positiv hervorgehoben. Ein langes Kapitel folgt über den Balkan und seine Geschichte. Anhand der Analyse dieser Staaten wagt Brandstätter auch eine Prognose über ihren Beitritt, denn sie würden zu Europa und in die EU gehören, ist er überzeugt. Auch wenn natürlich klar ist, dass diese Staaten oft noch Probleme in der Verwaltung oder bei der Rechtsstaatlichkeit haben. Länder, die an den Nachfolgen des Kommunismus leiden, versuchten in den vergangenen Jahrzehnten aufzuholen – aber immer wieder gibt es nationalistische Ströme, die dabei stören.
Beindruckend ist jedenfalls die Beschreibung von Albanien, die der Autor vornimmt. Dabei schreibt er von seinen persönlichen Erlebnissen, als er das Land 1993 besuchte. Junge Mitteleuropäer können sich das nicht mehr vorstellen:
„Im Jahr 1993 konnte ich eine Woche lang durch das Land der Skipetaren reisen. Was dort für eine unglaublich große, bedrückende Armut herrschte! (…) Das normale Fortbewegungsmittel waren Pferdewagen oder Ochsenwagen, Kinder ritten auf Eseln, chinesische Lastwagen standen meist beschädigt am Straßenrand und im Hafen von Durrës traf Schrott aus ganz Europa ein: ganze Autos, die in ihrer Heimat keine Fahrerlaubnis mehr bekommen hatten, und halbe als Nachschub für Ersatzteile. Sehr beliebt waren Mercedes aus den 1950er und 1960er Jahren, egal wie viele Kilometer sie auf dem Tacho und wie viele Beulen sie im Blech hatten. Das Autofahren war in dieser Zeit nicht ungefährlich, da fast alle ihren Führerschein erst seit kurzem besaßen und Neulinge im Straßenverkehr waren. Privatautos waren im Hoxha-Kommunismus verboten.“
Aus „Letzter Weckruf für Europa“ von Helmut Brandstätter, Seite 192
Ein gutes Beispiel für den „Steinzeit-Kommunismus“ in Albanien, wie ihn Brandstätter selber beschreibt, das heute fast schon humoristisch anmutet, aber gar nicht lustig ist, weil es zeigt, wie verrückt kommunistische Führer auf Kosten ihrer Bevölkerung regierten, findet sich auch in diesem Kapitel:
„Gleichzeitig wurden in der kommunistischen Partei erstmals Diskussionen zugelassen, ob ein wenig Privateigentum nicht doch die Armut lindern könnte. Im Jahr 1987 wurde den Bauern sogar erlaubt, zwei Schafe privat zu halten, nur Pärchen waren verboten, die hätten sich ja vermehren können. Das wäre zu viel der privaten Initiative gewesen.“
Aus „Letzter Weckruf für Europa“ von Helmut Brandstätter, Seite 195
Es gibt dann noch mehr solche Beispiele, die kann man aber natürlich selber im Buch nachlesen. Ein Kapitel über den Klimawandel durfte natürlich auch nicht fehlen, das fällt aber vergleichsweise kurz aus – auch wenn man anmerken muss, dass Brandstätter schon immer wieder auf den „Green Deal“ zurückkommt, den er positiv sieht.
China als Bedrohung
Das Wort China kommt im Buch 75 Mal vor. Kein Wunder, denn das kommunistische Regime ist auf dem Weg zur Weltmacht Nummer 1. Auch Brandstätter sieht das so, der davor warnt. Einmal mehr müsse Europa zusammenstehen, damit man gegenüber China auf Augenhöhe reden könne und uns die Führung dort nicht ihre „Werte“ aufs Auge drücken kann. Was das für „Werte“ sind, davon kann man sich in folgender Leseprobe einen Eindruck machen:
„China wird das System noch verfeinern. Dass man jederzeit die Körpertemperatur von Menschen messen kann, haben wir zuletzt gelernt. Die Daten können leicht gespeichert werden, dazu aber auch Puls und Blutdruck, Gewicht und körperliche Merkmale und Reaktionen. Die Apps dazu sind auf jedem Handy verfügbar, sie werden ständig weiterentwickelt, können schon bald routinemäßig in Kleidung eingebaut werden – und dann wohl auch in den Körper, mit direkter Verbindung zu staatlichen Stellen und privaten Versicherungen. In den chinesischen Städten sind bereits rund 200 Millionen Kameras montiert, mit dem Bezahlungssystem Alipay tätigen über 520 Millionen Menschen ihre Käufe, die ebenso wie die medizinischen Daten gespeichert werden. Der Staat will alles wissen, er belohnt und bestraft – aus Sicht der kommunistischen Partei hart, aber gerecht. Wer keine Schulden hat, kann günstig einen Kredit bekommen; wer zu viel Alkohol im Einkaufskorb trägt vielleicht aber doch nicht. Besser sieht es aus, wenn man oft Windeln kauft, dann muss man auch keine Kaution für die Wohnung hinterlegen. Außer man geht zu oft über die rote Ampel oder fährt zu schnell. Wer zu viele negative Social-Credit-Punkte sammelt, braucht gar nicht erst versuchen, ein Flugticket zu buchen. Der Staat weiß alles, er gibt und er nimmt.“
Aus „Letzter Weckruf für Europa“ von Helmut Brandstätter, Seite 131
Der Weckruf
Das letzte Kapital heißt dann so wie das Buch selber – „Weckruf“. Brandstätter stellt sich die Frage: Ist Krieg wieder möglich? Jedenfalls ist für ihn klar: „Ein vereintes Europa, das wirtschaftlich, politisch und militärisch wie eine Großmacht agiert“, müssten auch die Großmächte USA und China akzeptieren. Darum braucht es ein vereintes Europa. Und ja, damit hat er recht.
Das Buch hat Brandstätter übrigens für die junge Generation geschrieben, also für unsere Generation. Gewidmet ist es mit: „Für die Generation meiner drei Kinder und ihre Nachkommen. Mögen auch sie in einem friedlichen Europa leben, das auf Freiheit, Demokratie, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit aufgebaut ist.“ Er hat es also den jungen Menschen gewidmet. Auch wenn junge Menschen vielleicht nicht aufgrund dieses Buches für die EU begeistert werden, weil Politikverdrossene das Werk erst gar nicht anfassen werden, ist es doch eine ausgezeichnete Diskussionsgrundlage, weil es so viele Fakten und Erfahrungen bietet – und dabei verschiedene Aspekte beleuchtet.
Resümee
Zu empfehlen ist das Werk jedem, der die Vergangenheit unseres Kontinenten interessiert und die Zukunft von Europa am Herzen liegt. Man erfährt nicht nur über Europa spannende Details, die Analysen von China (und auch den USA) sind mindestens genauso spannend. Es ist sicher kein Sachbuch, das man so nebenbei liest, man muss sich schon Zeit dafür nehmen. Wer die Zeit aber hat, sollte es lesen und darüber diskutieren. Und man sollte ohnehin viel mehr über Europa reden.
Helmut Brandstätter, Letzter Weckruf für Europa, Kremayr&Scheriau, 288 Seiten, 24 €
Hinweis: frisch-CR Lucas Ammann hat mit dem Autor Dr. Helmut Brandstätter ein Interview über das Buch geführt, das demnächst auf frischnews.at erscheinen wird.