Nah und fern, bekannt und unbekannt. Armenien vereint in sich genau so viel Schönheit, Faszination und Wunder, wie Trauer, Leid und Schmerz. Ich durfte dieses Land im Kaukasus im Mai 2024 mit zwei wunderbaren Menschen bereisen, ein Land das so viel bietet, ein Land, von dem man unbedingt erzählen muss.
Betritt man armenischen Boden am Flughafen in Jerewan, nachdem man den Boden in Wien 3 ½ Stunden vorher verlassen hat, wird das erste Gefühl, das man verspürt, wohl Müdigkeit sein. Zwei Fluglinien bieten Direkttransfers in die Kaukasusrepublik an, die Zeiten dieser Flüge sind aber alles andere als freundlich. Beide Maschinen verlassen Wien um ca. 22:30 und kommen (Zeitverschiebung von Wien plus drei Stunden) um ca. 05:00 Ortszeit in Jerewan an. Eine Tatsache die leicht problematisch werden kann, wenn man in ein Land reist, in dem das Leben (Cafés, Restaurants und Hotel-Eincheck-Zeiten miteinbegriffen) erst ab 10:00 beginnt. Hat man sich aber mit der Tatsache abgefunden, dass man nun einige Stunden totschlagen muss, wird man – so es das Wetter zulässt – bei der Taxifahrt vom Flughafen in die Hauptstadt, von einem atemberaubenden Panorama begrüßt. Jerewan liegt, umgeben von schneebedeckten Berggipfeln, in einem Talkessel, der in der orange-rosafarbigen Beleuchtung des Sonnenaufganges seine volle Schönheit entfaltet. Die Blicke huschen von einem Berggipfel zum anderen. Ist der der Höchste? Ist der der Schönste? Ist das der Ararat? Oder vielleicht doch dieser andere da?
In der Bewunderung der Schönheit der umliegenden Gipfel und der aufgehenden Sonne ist man um diese Uhrzeit – fast – alleine. In Jerewan angekommen, sieht man nur Abordnungen der Polizei und einige zutrauliche Straßenhunde, die ebenfalls die Ruhe und Anmut der Morgenstunde erleben.
Eine etwas andere Welt
Ich hatte die Gelegenheit im Mai 2024 mit zwei ganz wundervollen Begleitern dieses nahe und ferne, bekannte und unbekannte Land zu erkunden. Einige Aspekte scheinen ganz normal, an andere muss man sich erst gewöhnen. In der Früh sind nur Polizisten unterwegs, das mag „normal“ klingen, hat hier aber einen ganz besonderen Grund. Armenien befindet sich im Krieg. Es ist kein offener Krieg mit Schlachten und Bombardements, es ist ein langgezogener – derzeit ruhender – Konflikt mit dem Nachbarland Aserbaidschan um Territorien im Osten Armeniens, Bergkarabach ist hier das bekannteste. Vor nicht all zu langer Zeit war es ein tatsächlicher Krieg, der mit der Niederlage Armeniens und dem Verlust einiger Territorien geendet hat. Die Nachwehen des Krieges sind noch immer zu spüren, zum einen in der allgegenwärtigen Präsenz von Militär und Polizei, andererseits in der Diplomatie Armeniens, das sich an die Europäische Union annähert – der bisherige große Verbündete Russland hat Armenien im Krieg im Stich gelassen. Die lange Verbindung zu Russland und die historische Verbindung zur Sowjetunion sind noch immer überall. Kyrillische Schriftzeichen sind genausooft zu finden wie das armenische Alphabet. Westliche Einflüsse sind zwar zu merken, sind aber weitaus weniger verbreitet. Das sieht man auch ganz besonders am Tourismus. Während am Flughafen noch eine Handvoll Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu sehen sind (uns drei Reisende miteinbegriffen), sind in der Hauptstadt wenige Touristen zu erkennen. Wenn man sie aber doch identifiziert, sprechen sie meist eine ostslawische Sprache – die Verbindung zur alten Sowjetunion bleibt weiterhin. In der Zeit der UdSSR war Armenien eine Teilrepublik, die vor allem als Touristenziel glänzen konnte. Schöne Berge, der große Sewan See und eine Kultur der Rekonvaleszenz luden die Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion zum Urlaub. Einer dieser Urlauber war Juri Gagarin, der nach seinem Flug ins All nahe dem Sewan See seine Erholung verbracht hat. Armenien hat nach diesem Helden der Sowjetunion ein kleines Dorf in der Nähe des Sees benannt.
Die Geschichte Armeniens und damit auch die Gegenwart ist von Konflikt und Unterdrückung gekennzeichnet. Armenien genoss zuletzt im frühen Mittelalter tatsächliche Freiheit und Macht als regionaler Player. Doch, wie so viele Gebiete des Kaukasus und der eurasischen Steppe wurde Armenien zum Spielball der Imperien: Römer, Parther, Oströmer/Byzantiner, Perser, kurz- und langlebige Steppenherrscher, russische Zaren, Osmanen und schließlich die Sowjets. Mit einer solchen Vergangenheit ist es wenig verwunderlich, dass von der greifbaren Geschichte Armeniens nicht viel übrig ist. Die meisten bedeutenden historischen Orte des Landes sind heute ruinöse Ansammlungen von Steinen, die einst die Größe des Landes repräsentierten. Die meisten Kirchen sind moderne Nachbauten, deren Vorgänger während des Genozids oder der Sowjetherrschaft niedergerissen wurden. Der Völkermord an den Armeniern ist ein Teil des Landes, der einen bei jeder Touristenattraktion verfolgt. Man liest hier von dem Brand einer Kirche, dort von der Wiedererrichtung; hier werden die Helden des Genozids präsentiert, dort die Opfer genannt. Klarerweise hat die Trauer ihren Höhepunkt beim Völkermord-Denkmal in der Hauptstadt, das neben einem kleinen Wald von solidarisch gepflanzten Bäumen und einem ewigen Feuer auch ein Museum beherbergt, das nicht nur den, von der jungtürkischen Regierung des osmanischen Reiches während des Ersten Weltkriegs durchgeführten, Völkermord thematisiert, sondern alle vorangegangenen Morde und Übergriffe der Osmanen auf die armenische Minderheit.
Eine scheußliche, tragische und berührende Geschichte, in der Armenien oft Bedrohungen ausgesetzt war, die sich bis in die heutige Zeit erstrecken. Bis auf den Nachbar Georgien ist Armenien nur von Feinden oder potentiellen Feinden umgeben, dem Iran, Aserbaidschan und der Türkei. Die Türkei bekleidet eine ganz besondere Feind-Position im Denken Armeniens, nicht nur wegen dem Völkermord, den die Türkei weiterhin nicht anerkennt, sondern auch wegen dem Berg Ararat. Der Ararat ist das mystische Symbol der Kaukasusrepublik, er ist Namensgeber von Mineralwasser, Bier, Cognac, Restaurants, Hotels und ziert auch den Ein- und Ausreisestempel des Landes. Auf dem Ararat – so heißt es – ist Noahs Arche nach der Sintflut an Land gekommen. Dieser Berg war über Jahrhunderte das Symbol Armeniens, bis er nach der Auflösung des Osmanischen Reiches an die Türkei gefallen ist. Der Berg ist nun so nah und doch so fern, wunderschön sichtbar von dem Aussichtsplateau der Hauptstadt und steht, nur wenige Kilometer hinter der armenisch-türkischen Grenze, für Hoffnungslosigkeit und Hoffnung zugleich. Er liegt zwar nicht mehr im eigenen Land, ist aber noch immer Teil des Wesens der Bevölkerung.
Nasen und Überraschungen
Die Bevölkerung ist eine etwas skeptische. Geschuldet der Geschichte, blickt man eher unfreundlich auf Ausländer. Die Menschen sind recht verschlossen, interagieren wenig mit Fremden und verbleiben in ihren Kreisen. Die Bedienung in Lokalen ist oft ungewohnt, sind die Bestellungen aufgenommen wird man für den Rest des Abends alleine gelassen, kein großes Hindernis, doch sollte man darauf eingestellt sein. Junge Menschen sind auf den Straßen wenige zu sehen, wenn dann sind es junge Männer. Generell ist das Erscheinungsbild des öffentlichen Lebens in Armenien männlich. Frauen, vor allem junge Frauen sind wenig Teil der Öffentlichkeit, dies mag an den Auswanderungsbewegungen liegen – von den zehn Millionen ethischen Armenierinnen und Armeniern lebt nur ein Drittel tatsächlich in Armenien – oder an der Kultur, sie aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. In starkem Gegensatz zu diesem „verschlossenen“ Leben der armenischen Frauen stehen die zahlreichen Schönheitssalons, die sich vor allem an Frauen wenden. Diese Salons sind nicht nur auf Nägel, Haare oder schöne Haut fokussiert, es sind oft Schönheitskliniken, die Nasenkorrekturen anbieten. Es scheint so, als wären viele Armenierinnen mit ihrer Nasenform nicht zufrieden; es ist aber umso komischer, dass die Nasen, mit denen man dann doch zufrieden ist, nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden. Die einzigen jungen Männer und Frauen die man vermehrt im täglichen Leben sieht, sind uniformiert. Wohl auch dem Krieg geschuldet, tragen diese jungen Menschen Kadettenuniformen und sind oft um patriotische Denkmäler, wie die große Statue „Mutter Armenien“, geschart. Ihre tatsächliche Aufgabe – außer dem Herumstehen – ist wie bei der riesigen Anzahl der Polizeikräfte nicht zu erkennen.
Neben diesem anderen öffentlichen Leben ist Armenien ein Land mit wunderschöner Musik und faszinierenden Gerichten, die nur darauf warten gehört und gekostet zu werden. Entdecken und erleben muss man auch das Land selbst. Armenien ist so abwechslungsreich und bezaubernd, dass man auf einer zweistündigen Fahrt von Hochgebirgspässen, zur tiefgrünen Graslandschaft, hinzu Ausläufern der Steppe alle möglichen Naturschauspiele sieht. Neben der beeindruckenden Natur, ist das Land für das aufmerksame Auge immer voller Überraschungen, sei dies eine verlassene, an einem Seeufer abgestellte Tupolew Tu-134, eine tiefsowjetisch anmutende Bergbaustadt mit einer mittelmäßigen möchtegern-amerikanischen Pizzeria am Hauptplatz, ein altes Höhlenkloster oder ein antik griechisch/römischer Tempel, der nach einem Erdbeben wiedererrichtet wurde und nun von neuem in vollster Schönheit und Größe auf einem Berg thront, während er das Tal darunter überblickt.
Armenien ist nah und fern, bekannt und unbekannt. Die sowjetischen Überbleibsel mag man mit Erfahrungen aus Osteuropa verbinden, die Küche und Musik vielleicht mit Impulsen, die man aus der Levante kennt. Andere Dinge sind ganz neu und wunderschön unbekannt; die Sprache, die Art zu Leben und Autozufahren, die Schrift, die Religion (weder Katholizismus noch Orthodoxie stellen hier die Mehrheit, sondern die armenisch apostolische Kirche), der Kriegszustand und das schwere Erbe der Geschichte dieser Kaukasusnation sind alles Teile, die ein wahnsinnig faszinierendes Land ergeben, das man unbedingt erlebt haben muss.